altissia

Nicolas Sabouret: Künstliche Intelligenz: Worüber sprechen wir da eigentlich?

2. Juni 2023

Wir haben das Vergnügen, in diesem Interview mit einem Experten für künstliche Intelligenz zu sprechen: Nicolas Sabouret ist Professor an der Universität Paris-Saclay und Direktor der Graduate School of Computer Science.

Er ist Spezialist für künstliche Intelligenz und Mensch-Maschine-Interaktion und interessiert sich vor allem für Affective Computing. Seit mehreren Jahren trägt er mit seinen Arbeiten, Thesen und veröffentlichten Werken zu der Debatte über das Fachgebiet bei.

In diesem Interview befassen wir uns mit verschiedenen Themen, darunter die Definition von KI und deren Anwendungsgebieten, die technologischen Herausforderungen im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung sowie die Leistungsfähigkeit der Algorithmen und deren Zusammenhang mit Intelligenz. Wir untersuchen auch die Kompetenzen, die benötigt werden, um in dieser sich stetig weiterentwickelnden Branche zu arbeiten, sowie die Einsatzmöglichkeiten beim Unterrichten und Lernen.

Wir hoffen, dass dieses Gespräch für diejenigen, die sich für KI und ihr derzeitiges und zukünftiges Potenzial interessieren, aufschlussreich sein wird.

Wie definieren Sie künstliche Intelligenz, und in welchen Bereichen wird sie heute hauptsächlich eingesetzt?

Künstliche Intelligenz ist die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, Tätigkeiten von Maschinen ausführen zu lassen, die Intelligenz erfordern, wenn sie von Menschen ausgeführt werden.

Sie wird in zahlreichen Bereichen eingesetzt, ohne dass wir uns dessen unbedingt bewusst sind: KI steckt im Navigationsgerät Ihres Autos oder hinter den Kaufempfehlungen von Amazon oder der von Facebook bereitgestellten Auswahl der Ihnen angezeigten Beiträge, aber auch im Steuergerät des Krans auf Baustellen zur Vermeidung von Prellschlägen, oder im Postverteilungszentrum für das Sortieren von Briefen nach Postleitzahl mittels optischer Zeichenerkennung, in der von Schulleitern zum Erstellen von Stundenplänen verwendeten Software oder auch in den Marsrobotern zur Steuerung der Fortbewegung!

Welche technologischen Herausforderungen gibt es hauptsächlich bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz?

Diese Frage kann unter vielen ganz unterschiedlichen Aspekten verstanden werden, denn „Technologie“ ist ein Konzept, das Vorstellungen umfasst, die von der Wissenschaft über die Technik bis hin zum praktischen Gebrauch reichen. Auf wissenschaftlicher Ebene besteht die Schwierigkeit darin, die richtige Art der Berechnung zu finden, die zu einem korrekten Ergebnis für ein Problem führt, zu dem sich mathematisch keine exakte Lösung erzielen lässt. Aus diesem Grund gibt es so viele KI-Techniken, die jeweils speziell auf eine Kategorie bestimmter Probleme zugeschnitten sind. Auf technischer Ebene muss abgeklärt werden, wie sich KI-Algorithmen in technischen Systemen umsetzen lassen. Ein einfaches Beispiel hierfür: Um einen Algorithmus zu schreiben, der in einem Graphen den kürzesten Weg zwischen einem Punkt A und einem Punkt B berechnen soll, werden neben geografischer Datenverarbeitung zur Berechnung des Graphens anhand von Straßenkarten auch Satelliten für die Positionsbestimmung und eine anwenderfreundliche Benutzeroberfläche zur Eingabe der Zieladresse und optischer Darstellung der Route usw. benötigt. Was schließlich die praktische Anwendung angeht, so müssen die Technologien nützlich sein (in dem Sinne, dass die Menschen ein Interesse daran haben). Das trifft auf Algorithmen für Empfehlungen und Bilderkennung oder Textanalysen für die sozialen Netzwerke zu. Bestimmte KI-Tools sind jedoch nicht angenommen worden (beispielsweise Empfehlungssysteme im medizinischen Bereich), weil der praktische Gebrauch nicht gegeben war.

Gemäß der Aussage von Luc Julia, einem der Erfinder von Siri, hat die Leistung von Algorithmen nichts mit Intelligenz zu tun. Was sagen Sie dazu?

Zunächst müsste definiert werden können, was Intelligenz ist. Und das ist eine schwierige Frage. Eines ist jedoch sicher, nämlich dass Maschinen rechnen, aber nicht „denken“. Da bestimmte Probleme sich durch Rechnen sehr gut lösen lassen, sind Maschinen uns bei bestimmten Aufgaben durchaus überlegen (Menschen können ein Sudoku-Rätsel nicht in einer Millisekunde lösen), wobei sie einen sehr kompetenten Eindruck machen. Das führt dazu, dass wir dazu neigen, ihnen Intelligenz zuzuschreiben, insbesondere, wenn die Aufgabe für einen Menschen so schwierig ist (zum Beispiel die Erkennung von Tumoren per Ultraschall). Aber es handelt sich in jedem Fall nur um das Ergebnis einer Berechnung, die für einen bestimmten Zweck programmiert wurde, KI-Programme sind heutzutage nicht zu einer „allgemeinen“ Intelligenz fähig, mit der sie sich an ganz unterschiedliche Aufgaben anpassen könnten.

Luc Julia hat auch gesagt: „Intelligenz bedeutet nicht nur, eine Partie Go zu gewinnen, sondern auch zu wissen, wie man sich ein Sandwich macht.“ Das stimmt natürlich!

Welche Kompetenzen sind notwendig, um im Bereich der künstlichen Intelligenz zu arbeiten?

Wenn Sie mit „im Bereich der künstlichen Intelligenz arbeiten“ die Entwicklung von KI-Programmen meinen, werden solide Mathematik- und Informatikkenntnisse benötigt. Sie können aber auch auf dem Gebiet der KI in Interaktion mit IA-Tools arbeiten, ohne selbst Expert/-in in der Disziplin zu sein. So arbeiten in unserem Labor Forscher/-innen aus dem Bereich der Psychologie und helfen uns bei der Entwicklung „menschlicherer“ Chatbots, die in der Lage sind, die Benutzer/-innen zu unterstützen, ohne deren Lebensgewohnheiten zu beeinträchtigen. Diese Kolleginnen und Kollegen entwickeln zwar keine KI-Programme, leisten aber mit ihren experimentellen Studien und den aus ihren Forschungsresultaten gewonnenen Erkenntnissen, die sie an die Informatiker/-innen weitergeben, einen Beitrag zur Entwicklung von KI-Systemen. Insofern „arbeiten sie im Bereich der künstlichen Intelligenz“. Ich habe Psycholog/-innen als Beispiel angeführt, aber es könnten auch Fachkräfte für Biologie, Medizin, Chemie, Energie usw. sein. Es ist also nicht nötig, Informatiker/-in zu sein, um im KI-Bereich tätig zu sein. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass kein KI-Programm „von sich aus“ funktioniert, sondern immer menschliches Know-how erforderlich ist. Wenn wir morgen KI-Programme erstellen möchten, um die Verbreitung von Kultur, Erhaltung des Kulturerbes oder geschichtliche Recherchen zu unterstützen, benötigen wir Fachleute aus diesen Bereichen, die vorgeben, „was die Maschine tun soll“. Die Maschine kann nicht allein bestimmen, was sie machen soll – und die Informatiker/-innen übrigens auch nicht!

Die Geschichte der Wissenschaft und Technologien zeigt, dass technische Innovationen sowohl Segnungen als auch Gefahren bergen können. Was meinen Sie: Müssen wir uns vor künstlichen Intelligenzen fürchten?

Für diese Frage gibt es zwei Antwortebenen. Ganz wörtlich gesehen, würde ich sagen, dass sich keiner vor KI fürchten muss: Sie ist ein Werkzeug, das weder gut noch schlecht ist. Die praktische Nutzung des Werkzeugs durch uns ist gut oder schlecht. Mit ein und demselben KI-Algorithmus für bildgestützte Entscheidungen lassen sich Ärzt/-innen Empfehlungen geben, um sie bei der Diagnose zu unterstützen, oder auch automatisch medizinische Eingriffe auslösen, ohne dass überhaupt eine Einwilligung der Patientin oder des Patienten vorliegt. Im ersten Fall haben wir es mit einer intelligenten Anwendung von KI zu tun, bei der etwaige technologische Grenzen und die Bedeutung des Menschen bedacht worden sind. Im zweiten Fall handelt es sich um eine zweckentfremdende Nutzung. Es müssen also missbräuchliche Anwendungen von KI gefürchtet (und verhindert) werden, aber nicht die künstliche Intelligenz an sich als wissenschaftliche Disziplin. Ebenso muss übrigens der Missbrauch der Kernphysik, und nicht die Wissenschaft an sich reglementiert werden!

Doch angesichts dessen, dass uns die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt bewusster werden, kann die Frage, „ob wir uns vor der KI fürchten müssen“, einen anderen Sinn bekommen. Bestimmte KI-Algorithmen wie Deep-Learning verbrauchen nämlich extrem viel Energie und natürliche Ressourcen. Es steht daher zu befürchten, dass die missbräuchliche Nutzung dieser Methoden kurzfristig dem Gleichgewicht des Ökosystems unserer Erde schadet.

Schließlich möchte ich gern darauf hinweisen, dass die Formulierung Ihrer Frage, in der Sie von den „künstlichen Intelligenzen“ sprechen, in gewisser Weise betont, dass wir KI-basierte Tools ganz selbstverständlich personifizieren. Es wäre korrekter, von „KI-Systemen“ zu sprechen, um daran zu erinnern, dass es sich um Systeme, und nicht um Personen handelt.

Wie stellen Sie sich die Integration von KI in das Bildungswesen und die Rolle der KI in diesem Bereich vor?

Wie den meisten Wissenschaftler/- innen fällt es auch mir leider schwer, ausgehend von Forschungen auf meinem Gebiet mit Anwendungsmöglichkeiten aufzuwarten. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns anschauen und anhören müssen, was die Künstler/-innen und Kreativen sagen, die zwar nicht unbedingt wissen, wie KI-Systeme funktionieren, es aber besser verstehen, uns deren Potenzial aufzuzeigen. Nichtsdestotrotz kann ich zwei Anwendungsbeispiele im Bildungswesen nennen, die mir sehr vielversprechend erscheinen. Beim Lernen von Sprachen können Spracherkennungsprogramme und automatische Übersetzungsprogramme, die aus der KI-Forschung hervorgegangen sind, bei der Entwicklung von Systemen helfen, mit denen sich außerhalb des Unterrichts lernen lässt. Das scheint mir für den Fremdsprachenerwerb, bei dem regelmäßige und praktische Anwendung unverzichtbar ist, von grundlegender Bedeutung zu sein. Das zweite Beispiel, das mir einfällt, ist das automatische Korrigieren der Arbeiten von Lernenden. Natürlich ist es unerlässlich, dass die Lehrkraft die Fehler ihrer Schülerinnen und Schüler bei formativen Evaluierungen genau versteht. Dennoch ist die Bewertung in der summativen Phase oftmals eine repetitive, wenig attraktive Tätigkeit. Ich denke, dass künstliche Intelligenz zur Entwicklung von Korrekturassistenten beitragen könnte. Diese wiederum könnten es den Lehrkräften ermöglichen, sich mehr auf die Vermittlung von Wissen und die Unterstützung ihrer Schüler/innen und Studierenden zu konzentrieren